Die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen in einer von Naturgesetzen bestimmten Welt ist schon alt. Es bedarf keiner genauen Kenntnis der Neurophysiologie um dem Menschen seine Willensfreiheit in Abrede zu stellen. Auch die Kritik an diesem mechanistischen Weltbild ist nicht neu. Dennoch wird an verschiedenen Stellen schon darüber diskutiert, ob man das Strafrecht in Anbetracht der fehlenden Willensfreiheit des Menschen nicht abändern müsse. Wie so oft zeigt sich hier die Ideologie als des Pudels Kern. Nicht die Erkenntnis fordert das Umdenken, sondern eine andere Art zu denken sucht nach einer Rechtfertigung. Zwei Namen sind in diesem Zusammenhang von Interesse: Libet und Qualia
Benjamin Libet wurde bekannt für seine Experimente in den 80er Jahren. Er führte Messungen zur zeitlichen Abfolge bewusster Handlungsentscheidungen und ihrer motorischen Umsetzung durch. Bemerkenswert war dabei, dass der motorische Kortex die Bewegung vorbereitete, bevor dem Probanden der Wunsch nach der Bewegung bewusst wurde. Einige Neurophysiologen, wie der Biologe Gerhard Roth, ziehen daraus die Konsequenz, dass die bewusste Entscheidung grundsätzlich durch einen unbewussten neurologischen Vorgang vorweggenommen wird.
Dass sich die Motivation zu einer Handlung und selbst die physische Vorbereitung bereits vor der Entscheidung einstellt ist aber an sich nichts Neues. Man sieht eine Tafel Schokolade, es läuft einem das Wasser im Munde zusammen und man hat den Wunsch, davon zu essen. Das Wasser kann einem dabei im Munde zusammenlaufen, noch bevor einem bewusst ist, dass man eine Tafel Schokolade wirklich essen möchte. Damit ist die Entscheidung aber noch lange nicht gefallen. Die Situation ist bei dem Libet-Experiment zumindest ähnlich. Libet selbst konnte in weiteren Experimenten zeigen, dass es offenbar ein Zeitfenster gibt, in dem der bewusste Wille eine bereits vorbereitete Handlung abbrechen kann. Unter Verweis auf die prohibitive Formulierung ethischer Regeln: "Du sollst NICHT..." bleibt damit die Verantwortlichkeit des Menschen bestehen. Überhaupt erklärt ein für eine Handlung entsprechendes neurophysiologisches Bereitschaftspotential nicht kausal unser Tun. Es ist anzunehmen, dass unser Gehirn ständig irgendwelche Bereitschaftspotentiale für mögliche Handlungen entwickelt. Trotzdem wird Libet weiter benutzt, um die Entscheidungsfähigkeit des Menschen als emotionalstes Argument gegen ein neomechanistisches Weltbild zu zerschlagen.
Die Ideologen prahlen dabei immer wieder mit dem Wissen um die neuronalen Vorgänge bei der Verarbeitung von Informationen. Die Zahl der gesammelten Daten und Beobachtungen mag dabei wirklich beeindrucken, aber eine diese Daten interpretierende Theorie bleibt nach wie vor auf der Ebene der Spekulation, wie bei einem Fischer, der zwar tausende Tierarten der Meere kennt, aber keine Ahnung hat, wie Fische atmen, schwimmen, sich ernähren, fortpflanzen und überleben. Einen Eindruck in die Schere zwischen umfangreicher Datensammlung einerseits und fehlender Interpretation andererseits gibt das Problem der Qualia.
Unter „Qualia“ wird der subjektive Erlebnisgehalt mentaler Zustände verstanden. Gerade ein solches subjektives Element scheint sich jeder intersubjektiven Begriffsbestimmung zu widersetzen. Jeder von uns, der sehen kann, kann hell und dunkel unterscheiden. Ein Sensor kann das auch, aber wir gehen nicht davon aus, dass der Sensor hell und dunkel "erlebt". Selbst wenn wir die Daten des Sensors von einem Computer auswerten lassen würden, der bei Licht ausgibt: "Es ist so schön, wenn es hell ist", würden wir, nachdem wir die Programmierung verstanden haben, kein inneres Erleben mehr unterstellen, sondern lediglich die Verarbeitung der Informationen des Sensors ohne subjektives Erleben - bildlich formuliert: Der Computer bleibt innerlich schwarz. Es gibt schließlich auch keine Ursache, die ein subjektives "Erleben" des Computers erzwingen würde. Die Annahme eines subjektiven Erlebens des Computers, nachdem wir die Verarbeitung verstanden haben, die zur Ausgabe am Bildschirm führt, wäre ein Verstoß gegen das Sparsamkeitsprinzip jeder wissenschaftlichen Theorie. Reduziert man nun das Gehirn auf ein System das Daten verarbeitet, so besteht auch bei diesem keinerlei Notwendigkeit, ein inneres Erleben zu unterstellen. Der Mensch agiert als kybernetisches System seiner Umwelt entsprechend und es besteht keinerlei Notwendigkeit, dem Feuern oder Nichtfeuern irgendeines Neurons einen subjektiven Erlebnisgehalt zuzugestehen, selbst wenn das Individuum, ähnlich wie der Computer, darauf besteht. Denn die Forderung nach Anerkennung des subjektiven Erlebens wäre ja selbst wieder ein kausaler Verarbeitungsprozess unter Berücksichtigung der Ablehnung. Und wieder bleibt die Frage nach dem Erleben außen vor.
Willensfreiheit, Liebe, Hass, etc., all diese Wirklichkeiten sind uns, da wir die erleben, unmittelbarer, als eine mittelbar erlernte Theorie der neuronalen Verarbeitung, die sich indirekt als Erlebnis den Weg in unsere Wirklichkeit erst bahnen muss. Wenn diese Theorie dann nicht einmal im Ansatz aus der wissenschaftlichen Realität einen kausalen Bezug zur subjektiven Wirklichkeit herstellen kann, fehlt ihr der wissenschaftliche Erklärungswert und sie ist in Bezug auf die erlebte Wirklichkeit bedeutungslos. Aus diesen Spekulationen die eigenen ethischen Vorstellungen als wissenschaftlich ableiten zu wollen erinnert an den Versuch im Dritten Reich, Antisemitismus mit einer pseudowissenschaftlichen Rassentheorie zu begründen. Die erlebte Verantwortlichkeit des Menschen bleibt bestehen, sowohl gegenüber dem Menschen, als auch gegenüber Gott (vgl. Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland).
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