Kennen Sie das? Man hat eine Frage, ein Anliegen oder wünscht sich einfach nur, dass jemand richtig zuhört. Doch als Reaktion wird eine Bibelstelle zitiert. Texte aus der Bibel, mehr oder weniger passend und offenbar aus einem Bibelbaukasten für schnelle, einfache, fromme aber oft auch leider etwas hohle Antworten. Selbst auf persönliche Fragen wird vorgefertigt biblisch geantwortet. Der Mensch hinter den Bibelzitaten bleibt unsichtbar. Wie kommt es zu so einem Verhalten?
"Unsere Glaubensgrundlage ist die Bibel und nichts als die Bibel."
(Glaubensbekenntnis der Konferenz für Gemeindegründung, Februar 2014)
"Wir bekennen uns zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung."
("Basis des Glaubens", Evangelische Allianz Deutschland, Februar 2014)
"Für Jesus war die Bibel höchste Autorität sie stand über allen."
("Die Bibel - Gottes Wort", FeG Brandis, Januar 2014)
Und da dachte man immer, Christen glauben an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Was ist die Grundlage des christlichen Glaubens? Was ist ein Christ? Worauf vertraut er? Und wer kann diese Frage stellvertretend für die Christenheit beantworten?
Solange die Gemeinschaft der Christen unter einer Kirche geeinigt ist, könnte diese Kirche für ihre Anhänger diese Frage beantworten. Doch wann war die Christenheit überhaupt geeint? Schon das neue Testament beschreibt, wie unterschiedliche Lehrmeinungen die Kirche spalteten (1. Kor 1,10-16). Das Erste Konzil von Nicäa wurde vom römischen Kaiser Konstantin I. im Jahr 325 in der kleinen Stadt Nicäa (heute Iznik, Türkei) bei Konstantinopel (heute Istanbul) einberufen, um den in Alexandria ausgebrochenen Streit über den Arianismus zu schlichten. 1054 kam es zum großen morgenländischen Schisma. Die lateinischen Kirche des Westens und die griechischen Kirche des Ostens trennten sich. Ausschlaggebend war die Frage nach dem Zentrum der Christenheit: Wer spricht für die Christenheit? Im Westen kam es dann zur Reformation. Luther und andere stellten sich mit ihren Thesen gegen die Autorität der katholischen Kirche. Luther wurde in der Exsurge Domine die Exkommunikation angedroht, worauf dieser am 10. Dezember 1520 die Drohbulle öffentlich verbrannte. Seit seiner Schrift Adversus execrabilem Antichristi bullam, mit der er die Verbrennung der Bulle begründete, setzte er die Führung der katholischen Kirche mit dem Antichristen gleich, während Papst Leo X. Luther am 3. Januar 1521 exkommuniziert und seine Anhänger zu Häretikern erklärt. Inzwischen gibt es innerhalb der reformatorischen Tradition neben der evangelischen Kirche auch noch sog. Freikirchen, neben der römisch-katholischen Kirche beispielsweise die Alt-Katholische Kirche und eine unüberschaubare Zahl weiterer, teils winziger Gruppen, von denen man allenfalls hin und wieder in den Medien hört, wenn sie durch Ansichten auffallen, die als extrem gelten. Und alle nehmen für sich in Anspruch, die grundlegende Frage stellvertretend für die ganze Christenheit beantworten zu können, mit dem Verweis, dass sich alle anderen, die dem widersprechen, natürlich irren.
So erklären auch jene Christen, die sich inzwischen oft sogar selbst als „evangelikal“ bezeichnen, was ihrer Meinung nach die Grundlage des christlichen Glaubens sei: "Die Bibel und nichts als die Bibel." Angenommen, Menschen glauben so etwas tatsächlich. Wer oder was könnte sie vom Gegenteil überzeugen? Der Verweis, es sei unsinnig, den gesamten Glauben auf ein Buch zu reduzieren, wird nicht fruchten, da dem schlicht entgegengesetzt wird, die Bibel wolle das so. Aber will sie das wirklich? Wie kann man glauben, dass die Bibel diesen Status hat, wenn die Bibel selbst diesen Status von sich weist? Wer die Bibel ernst nimmt, sollte sie auch ernst nehmen, wenn sie darauf hinweist, dass sie nicht die Grundlage ist. Nehmen wir deshalb die Bibel von ihrem Götzenaltar und schlagen sie auf:
"Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus." (1. Kor. 3,11)
Jesus allein ist also laut Bibel die Grundlage. Und er ist höchste Autorität und entscheidender Maßstab in allen Fragen, was in der Gemeinde gelten soll:
"Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde." (Kol 1,18)
Wozu es führt, wenn die Bibel zur höchsten Autorität wird, wenn Paulus oder Jakobus teilweise über Jesus gestellt werden, nur weil Jesus selbst keine Evangelien, Briefe oder Offenbarungen geschrieben hat, konnte man schon bei den ersten Christen sehen. Und wieder lassen wir die Bibel zu Wort kommen, die von Evangelikalen ja akzeptiert werden sollte:
"Darum, meine Lieben, während ihr darauf wartet, seid bemüht, dass ihr vor ihm unbefleckt und untadelig im Frieden befunden werdet, und die Geduld unseres Herrn erachtet für eure Rettung, wie auch unser lieber Bruder Paulus nach der Weisheit, die ihm gegeben ist, euch geschrieben hat. Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen, wie auch die andern Schriften, zu ihrer eigenen Verdammnis. Ihr aber, meine Lieben, weil ihr das im Voraus wisst, so hütet euch, dass ihr nicht durch den Irrtum dieser ruchlosen Leute samt ihnen verführt werdet und fallt aus eurem festen Stand. Wachset aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilands Jesus Christus. Ihm sei Ehre jetzt und für ewige Zeiten! Amen." (2. Petrus 3,14-18)
Es geht nicht darum, was Paulus meinte, sondern was Gott will. Wir sollen wachsen in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilands Jesus Christus – nicht in der Erkennis des Paulusbriefes. Indem aber die Frage, was Jesus getan hätte, was der Wille des Vaters ist oder wie uns der Heilige Geist führt, nicht mehr gestellt wird, sondern die Frage zu einem reinen exegetischen Problem simplifiziert wird, wird die Tür geöffnet für den Missbrauch scheinbar göttlicher Autorität. Die Bibel als "höchste Autorität" ebnet den Weg für Schriftgelehrte und Pharisäer, die diese dann, wie schon früher, selbst gegen Jesus instrumentalisieren können.
Deshalb nochmals: Der dreieinige Gott ist die höchste Autorität. Die Bibel weist auf diese Autorität hin, hat sie jedoch nicht selbst und weist sie auch von sich. Wenn ich in der Bibel lese, so bete ich, dass der heilige Geist durch die Bibel zu mir sprechen möge und die Bibel dadurch zum Wort Gottes wird. Aber auch dann ist es wieder Gott der spricht, auch dann ist Gott die Autorität, auch dann geht es um den Willen Gottes und nicht "Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist der pfiffigste Exeget im Land".
Betrachtet man das apostolische Glaubensbekenntnis, so geht es darin zunächst um Gott und dann um Jesus – die Bibel wird nicht einmal erwähnt. Die ersten Christen konnten ihren Glauben ohnehin nicht auf das "Neue Testament" stützen, da dieses noch gar nicht existierte. Sie verließen sich auf die Berichte der Apostel, die Jesus kannten. Nachdem die Apostel starben und Jesus doch nicht so bald wiederkam, wie von vielen erwartet, wurden die Geschehnisse niedergeschrieben. Erst Jahrhunderte später wurden vier der vielen Evangelien, ein paar Briefe, die man für authentisch hielt und die Offenbarung des Johannes als "Neues Testament" festgelegt. Nicht jedes Buch des neuen Testamentes hatte dabei die gleiche Akzeptanz. Bücher wie die Offenbarung des Johannes oder der Hebräerbrief wurden angezweifelt, kamen aber dennoch dazu. Andere wurden abgelehnt. Wenn die Bibel die höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens ist, auf welche Autorität beriefen sich dann die, die festlegten was als Bibel zu gelten hat?
Wir haben es in "evanglikalen" Gemeinden inzwischen mit einem Konstrukt zu tun, das die nicht katholische Christenheit zu standardisieren versucht. Wie hält man die Gläubigen zusammen, wenn das Laienpristertum gilt und der Papst Streitigkeiten nicht mehr ex cathedra entscheiden kann? Das Vertrauen in den Heiligen Geist, der der Überlieferung nach die ersten Christen zusammenhielt, ist offenbar in unserer Gemeinde nicht allzu groß, wenn man einen Götzen erschafft, der als höchste Autorität über Gott gestellt wird. Warum reicht es nicht, die Bibel als historisches Zeugnis dessen zu sehen, was wir glauben? Warum reicht es nicht, darum zu beten und darauf zu vertrauen, dass der Heilige Geist uns deutlich macht, was für uns heute wichtig ist, wenn wir darin lesen?
In der katholischen Kirche wird argumentiert, dass die Kirche vor der Bibel existierte, dass sie festlegte, was "Bibel" ist und dass die Kirche daher die entscheidende Autorität sei. Die Kirche legt fest, was geglaubt und getan wird. Und "natürlich" tut sie das im Auftrag und im Sinne Gottes. Trotzdem wurde die Frage, wer denn nun festlegt was die Kirche glaubt und will, zentral und führte zum Papsttum, zur Kummulation der Macht und dem Missbrauch derselben im Mittelalter. Jesus wurde als Fundament verdrängt, Gott durch einen Stellvertreter ersetzt und die Gläubigen statt direkt durch den Heiligen Geist von einem Papst geleitet, der vorgab, vom Heiligen Geist geleitet zu werden. Die Katastrophe lies nicht lange auf sich warten. Dabei muss man sich nur fragen: Hätte Jesus zu Kreuzzügen aufgerufen? Hätte er eine Inquisition eingesetzt? Hätte er "Ketzer" oder "Hexen" ermordet? Jesus stellte sich vor die Ehebrecherin, verurteilte sie nicht, obwohl die Bibel (in dem Fall die Thora) den Tod durch Steinigung forderte. Die Autorität Gottes wurde durch die Autorität der heiligen römisch-katholischen Kirche ersetzt. Die folgenden Exzesse der Kirche belasten den Ruf des Christentums bis heute.
Die Sichtweise, es sei unproblematisch, der Bibel die höchste Autorität zuzusprechen, da die Bibel ja nur den Willen Gottes ausdrückt, ist genauso naiv. Wieder wird Gott an den Rand gedrängt, ersetzt durch einen ebenfalls fromm wirkenden Götzen: Hier ist es nicht die heilige römisch-katholische Kirche, hier ist es die heilige Schrift. Mit den gleichen Folgen. Zwingli und Calvin hatten als reformatorische Autoritäten auch kein Problem, eine biblische Begründung für die Ermordung derer zu finden, die ihnen nicht passten (z.B. Manz oder Servet). Sie argumentierten zum Beispiel, an Jesus könne man nicht ablesen, wie man als Christ mit weltlicher Macht umgehen soll, da Jesus ja keine weltliche Macht ausübte (Joh 18,36). Also orientierte man sich an Josua bei der Landnahme, an König David und andern, wenn es um den Umgang mit den "Häretikern" ging. Gamaliel galt nicht, da man es ja dank der Bibel besser weiß als Gamaliel:
"Es irren sich viele, die über Gamaliel sprechen, als ob man sich an seine Autorität halten müßte. Gamaliels Rat war, dass die Schriftgelehrten und Priester die Apostel nicht verfolgen sollten. Er sagte: Wenn ihre Lehre göttlich sei, könne nichts sie aufhalten; sei sie aber Menschenwerk, so werde sie von selbst vergehen. Wenn man so etwas unüberlegt sagt, so scheint es, als wolle man nicht bloß die öffentliche Ordnung auflösen, sondern auch die Kirchenzucht zerbrechen. In Wirklichkeit kommt es auf die Person an, die so etwas sagt. Denn Gamaliel war im Zweifel (...)"
(Jean Calvin in Defensio 472-473/38)
Und Calvin wusste als Evangelikaler schließlich, dass er im Recht war:
"wenn Bösewichter versuchen, die Fundamente der Religion zu ruinieren, schreckliche Gotteslästerungen hervorstoßen und verdammenswürdige Thesen ausstreuen (...), kurz: Das Volk zu Rebellion gegen die reine Lehre Gottes aufstacheln, dann muss man zum letzten Mittel greifen."
(Jean Calvin in Defensio 477/49)
Wer sich der absoluten Wahrheit sicher ist, mordet schließlich aus "Menschenliebe":
"Eine Humanität, die diejenigen schätzen, die Pardon für die Häretiker wünschen, ist mehr als grausam: Denn um die Wölfe zu schonen, setzen sie die armen Schafe zur Beute aus."
(Jean Calvin in Defensio 471/35)
Die Macht und der Machtmissbrauch erfolgt hier nicht über das Papsttum, sondern über die Exegese. Welcher Exeget setzt sich durch und hat damit die Macht, über den Glauben und das Handeln anderer zu bestimmen – oder wie Calvin sogar über das Leben anderer? Dass Jean Calvin wesentlich das evangelikale Christentum der USA prägte, sollte zumindest nachdenklich stimmen, wenn es darum geht, wie in den USA, die gesellschaftliche Einflussnahme gegen gesellschaftliche Randgruppen wie Homosexuelle auszuweiten. Wer garantiert, dass demnächst nicht die Umsetzung von Levitikus 20,13 eingefordert wird, weil das ja so in der Bibel steht?
Wie anders würden sich Calvin und manch andere Reformatoren lesen, wenn sie sich an Jesus orientiert hätten?!
Das Problem einer "Heiligen Schrift" als Götze findet sich ebenfalls in der Bibel an vielen Stellen. Die Auseinandersetzung Jesu mit den Schiftgelehrten und Pharisäern, für die die Schrift ebenfalls an höchster Stelle stand, zeigt dies. Gott wurde abgelöst durch eine Schriftautorität, die von denen kontrolliert wurde, die die Schrift für das Volk auslegten. Nehmen wir die bereits erwähnte Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8). Die Schriftgelehrten und Pharisäer bringen eine Ehebrecherin vor Jesus und konfrontieren ihn mit dem alten Testament:
"Und der HERR redete zu Mose: (...) Wenn ein Mann mit einer Frau Ehebruch treibt, wenn ein Mann Ehebruch treibt mit der Frau seines Nächsten, müssen der Ehebrecher und die Ehebrecherin getötet werden." (3. Mo 20)
Die Bibel fordert die Tötung beider (von denen hier nur die Frau anwesend ist). Jesus spricht ihnen daraufhin die moralische Legitimation zur Vollstreckung ab und hat damit Erfolg. Im alten Testament wird aber mit keinem Wort erwähnt, dass man frei von Sünde sein muss, um die Steinigung zu vollstrecken. Den Menschen wurde jedoch klar, dass sie sich letztlich kaum von der Frau unterscheiden, die sie hinrichten wollen. Nicht einmal Jesus selbst steinigt die Frau, obwohl er das Problem mit der Sünde doch gar nicht hat.
Jesus stellt das Mitgefühl mit dem Opfer über das mosaische Gesetz, dem Kernelement der damaligen Bibel. Er bestreitet das mosaische Gesetz nicht, verhindert aber dennoch dessen Umsetzung. Für ihn ist die Schrift eben nicht die höchste Autorität. Die höchste Autorität ist für Jesus Gott, von dem er sich leiten lässt. Und hier besteht der fundamentale Unterschied zu den Pharisäern von damals und heute. Gott allein ist die höchste Autorität.
Ein weiteres Beispiel ist das Ährenraufen am Sabbat (Mk 2,23-28). Auch hier berufen sich die Pharisäer auf die Schrift und Jesus setzt sich über das Sabbatgebot:
"So ist auch der Menschensohn Herr über den Sabbat." (Mk 2,28)
In der Bergpredigt betont Jesus erneut (Mt 5):
"Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; (...)
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2.Mose 20,13; 21,12): 'Du sollst nicht töten'; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: (...)
Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 20,14): 'Du sollst nicht ehebrechen.' Ich aber sage euch: (...)
Es ist auch gesagt (5.Mose 24,1): 'Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.' Ich aber sage euch: (...)
Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3.Mose 19,12; 4.Mose 30,3): 'Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.' Ich aber sage euch (...)
Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 21,24): 'Auge um Auge, Zahn um Zahn.' Ich aber sage euch (...)"
Jesus erkennt die heilige Schrift an und will sie auch nicht abändern. Aber er macht deutlich, welche Stellung ihr zukommt. Er ist die Erfüllung der Schrift und entscheidend ist sein Maßstab. Das zitierte Matthäusevangelium schließt mit den Worten:
"Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende."
Und wieder ist Jesus die alleinige und höchste Autorität. Es geht nicht darum, was Paulus meint, oder Petrus, oder sonst irgendwer. Es geht nur um Jesus. "lehret sie halten alles, was ICH euch befohlen habe." Die letzte Autorität bleibt bei Gott.
Das setzt sich auch in der Apostelgeschichte fort:
"Darin waren allerlei vierfüßige und kriechende Tiere der Erde und Vögel des Himmels. Und es geschah eine Stimme zu ihm: Steh auf, Petrus, schlachte und iss! Petrus aber sprach: O nein, Herr; denn ich habe noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen. Und die Stimme sprach zum zweiten Mal zu ihm: Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten." (Apo 10)
Wieder setzt sich Gott über die heilige Schrift, in der steht:
"Ich bin der HERR, euer Gott, der euch von den Völkern abgesondert hat, dass ihr auch absondern sollt das reine Vieh vom unreinen und die unreinen Vögel von den reinen und euch nicht unrein macht an Vieh, an Vögeln und an allem, was auf Erden kriecht, das ich abgesondert habe, dass es euch unrein sei." (3. Mo 20,24f)
Gott ist die höchste Autorität. Nicht die Schrift.
Es ist mir wichtig deutlich zu machen, dass es hier nicht um meine Meinung oder Wunschdenken geht. Im gesamten Kontext des Neuen Testamentes wird deutlich, dass die Bibel die Stellung, die ihr von evangelikaler Seite zugesprochen wird, für sich nicht in Anspruch nimmt. Wie kann man die Bibel zur Grundlage erheben und gleichzeitig diese Passagen ausblenden?
Auch die häufig zitierte Stelle 2. Tim 3,16 stützt nicht das Ersetzten von Jesus durch die Bibel. Hier wird gesagt, dass die Bibel nützlich ist. Das kann ich nur unterstreichen. Aber sie ist damit noch lange nicht höchste Autorität. Auch "theopneustos" begründet keinen solchen Götzenkult. Paulus unterscheidet in 1.Kor 7,10 und 12 zwischen seiner Meinung und der Meinung Gottes. Wie ist das möglich, wenn die ganze Heilig Schrift von Gott "eingegeben" wurde? Dass man in der Bibel (auch im Alten Testament, auf das sich Paulus eigentlich bezieht) den göttlichen Hauch wahrnehmen kann, kann ich bestätigen. Aber auch hier verweist die Bibel auf einen, der größer ist, auf Jesus (und nicht umgekehrt).
Damals wie heute wird der Glaube bedeutungslos, wenn Jesus aus dem Zentrum gedrängt wird. So hohl, leer und albern die exegetischen Exzesse der Schriftgelehrten und Pharisäer damals waren, so hohl, leer und albern sind sie auch heute noch, wenn nicht mehr Jesus das Zentrum ist sonder die Bibel (vgl. Anfang). Und ebenso gefährlich.
Denn wenn die Bibel die höchste Autorität sein soll, welche Teile der Bibel gelten dann für uns heute? Welche sind dem historischen Kontext geschuldet. Und wer entscheidet das? An welchen Stellen redet Paulus zu einer antiken Gemeinde und an welchen Stellen redet er zu uns? Gilt der Zehnt noch als Richtschnur, warum dann nicht auch die Steinigung? Warum soll man den Sonntag heiligen, wenn in der Bibel der Samstag festgelegt wird? Es wird gedreht und gebogen, bis es "passt", auch im neuen Testament:
"Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht." (Apg 15)
Eigentlich eine klare Anweisung. Trotzdem gab es auf einem freikirchlichen Kongress Blutwurst zum Abendessen. Auf Anfrage wurde mir versichert, man wolle ja nicht gesetzlich sein und das gelte heute so nicht mehr für uns. Aber warum werden dann Homosexuelle mit ihrer Art, Sexualität auszuleben, nicht akzeptiert? Ist das nicht auch Schnee von gestern? Wer bestimmt überhaupt, was heute gilt und was nicht? Die Bibel ist angeblich die höchste Autorität, aber es sind Menschen, die festlegen, was daraus heute noch gilt und was nicht. Und diese Menschen üben Macht aus - Macht über die Akzeptanz von Randgruppen, Macht über die Kindererziehung oder über den Umgang mit Geld.
Es ist gleich, ob man der heiligen römisch-katholischen Kirche die höchste Autorität zuspricht und diese Kirche von Menschen gelenkt und die Macht missbraucht wird, oder ob wir der Bibel die höchste Autorität zusprechen und diese Bibel dann in unserem Sinne ausgelegen. In beiden Fällen schafft sich der Mensch einen fromm wirkenden Götzen, den er kontrollieren kann. Aber Gott lässt sich nicht zwischen zwei Buchdeckel einsperren. Der Verzicht auf diese Kontrolle macht vielen Führern Angst, da man Christen, deren Autorität allein Gott ist, nicht mehr kontrollieren kann (Apg 5,27-42; Joh 3,8).
Die höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens- und Lebenswandels ist allein Gott. Gott leitet die Gemeinde durch den heiligen Geist und er legt durch den heiligen Geist die Bibel aus. Es wäre spannend zu erleben, was aus unseren Gemeinden werden könnte, wenn nicht eine Kirchenleitung, ein Papst oder Exegeten und Pharisäer die Richtung vorgeben, sondern Gott selbst. Denn Gott möchte seine Gemeinde selbst leiten:
"Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe: (...) Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir." (Off 3,20)
Wie ging Jesus mit der Ehebrecherin um? Wie viele Menschen tötete Jesus? Starb überhaupt irgend jemand, wenn Jesus in der Nähe war (Joh 11,21)? An welcher Stelle missbrauchte Jesus Macht? Und in wie vielen Situationen verzichtete Jesus auf Machtausübung, obwohl es ihm möglich gewesen wäre? Wie sähe die Kirchengeschichte aus, wenn nicht die Kirche oder die Schrift als Orientierung gedient hätte, sondern Jesus?
Warum nutzte Paulus nicht seine brillianten Kenntnisse der Schrift gegenüber den unwissenden Menschen aus, die er evangelisierte? Statt dessen hielt er
"es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten." (1.Kor 2,2)
Ich schätze die Bibel. Sie kann helfen, mich zu orientieren. Aber sie kann auch missbraucht werden, wie von Teufel, der sie gegen Jesus einsetzte, als er ihn versuchte. Die Bibel ist eben nicht Gott. Ich glaube an den dreieinigen Gott: Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Die Bibel ist für mich nicht Teil Nummer vier.
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